Beitrag in „Forum Wissenschaft“ vom BdWi

Details zur Veröffentlichung

  • Name der Zeitschrift: „Forum Wissenschaft“
  • herausgegeben von: Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler e. V. (BdWi) in Marburg
  • Kontakt: bdwi@bdwi.de
  • Heft Nr.: 3/2020 („Science and future – Debatten um Klimakrise und Wissenschaft“)
  • Kosten: 8€; Printversion hier bestellbar
  • Zeitpunkt der Veröffentlichung: September 2020
  • Autor*innen von SfF Hildesheim: Mona Vongries, Micha Eulenstein, Kurt Weidt
  • Seiten im Heft: 41-43
Cover der aktuellen Ausgabe

Zukunftsfähige Wissenschaft

Klimagerechtigkeitsbewegung an der Uni Hildesheim

von Mona Vongries, Micha Eulenstein & Kurt Weidt (Students for Future Hildesheim)

Was bedeutet Klimagerechtigkeit? Mit dieser Frage beschäftigen sich Studierende an der Uni Hildesheim. Die Auseinandersetzung mit der Thematik führte im Sommersemester 2020 zu einer öffentlichen Ringvorlesung über die Klimakrise. Im folgenden Text beginnen die Akteur*innen mit einer Darstellung des (Klima-)Gerechtigkeitsbegriffs, in welcher verschiedene Aspekte, wie beispielsweise die Relevanz der sozialen oder der Geschlechtergerechtigkeit als wesentliche Bestandteile, beleuchtet werden. Anschließend werden die Klimagerechtigkeitsbewegung mit ihren Akteur*innen und somit Students for Future Hildesheim sowie ihre Aktionen vorgestellt.

Am 20.08.2018 saß Greta Thunberg vor dem Reichstagsgebäude in Stockholm statt in der Schule[1]. Der Schulstreik und das Engagement für das Klima fand seitdem in Deutschland, sowie in der ganzen Welt, durch die Gründung zahlreicher Fridays for Future-Ortsgruppen und somit durch einen stetigen Zuwachs der Klimagerechtigkeitsbewegung große Resonanz.

Über die Bedeutung von (Klima-)Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist ein unter Anderem im Erziehungsprozess und in spielerischer Welterfahrung geprägtes Empfinden, das nach Ordnung und Harmonie strebt. Ungerechtigkeit wirkt daher als Handlungsmotivator, unser Verhalten, oder das einer anderen Person, zu ändern. Als gerecht wird allgemein beurteilt, was für die Mehrheit der Menschen als gut empfunden wird, zum Beispiel ein würdevolles Leben und persönliches Glück.

Wie sieht unser Empfinden aus, wenn nicht wir direkt von Ungerechtigkeiten betroffen sind, sondern unsere Nachbarn? Wie sieht es aus, wenn Menschen aus anderen Ländern betroffen sind? Sich für Schwächere einzusetzen, ist tugendhaftes Verhalten. Doch folgen wir dieser Tugend auch bei komplexen Problemen, die für viele Menschen nicht greifbar sind? Der Klimawandel ist ein komplexes Problem. Durch die langsamen Veränderungen ist er für viele Menschen zunächst kaum wahrnehmbar und eher abstrakt[2].

Allerdings ist der Klimawandel und die damit verbundene Krise real und wird von Wissenschaftler*innen nicht in Frage gestellt. Dies gilt genauso für die Rolle des Menschen als Hauptverursacher dieses Problems. Seit der Industrialisierung heizen durch Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen verursachte Klimagase das Erdklima in bisher stetig wachsendem Maße an mit bereits lebensbedrohlichen Folgen für Menschen in den ärmsten Ländern des sogenannten globalen Südens[3]. Konsens unter den Wissenschaftler*innen ist die Forderung, dieser Entwicklung entgegenzuwirken und schnellstens die Dekarbonisierung, also die Umstellung der Energiegewinnung weg von fossilen hin zu regenerativen Energien, unserer Lebensweise umzusetzen[4].

Noch sind die Industriestaaten wenig(er) betroffen von den Folgen des Klimawandels, aber sie sind historisch Ausgangspunkt und Vorbild der Industrialisierung und unverändert Hauptverursacher der die Lebensgrundlage unserer gesamten Zivilisation bedrohenden Treibhausgase. In diesem Kontext, in dem ein würdevolles Leben und persönliches Glück, ja sogar das bloße Überleben von Menschen im globalen Süden durch die Lebensweise der Industrienationen des globalen Nordens in Frage gestellt wird, erhebt sich die Forderung nach Klimagerechtigkeit, und zwar dahingehend, dass die Industrienationen, die sich inzwischen über Jahrhunderte auf Kosten der übrigen Welt bereicherten, ihren um ein Vielfaches höheren Anteil für die Bekämpfung des Klimawandels leisten[5].

Aber der Begriff Klimagerechtigkeit umfasst weit mehr als die aktuelle Klimakrise. Es geht um die Frage nach den sozialen Folgen der hemmungslosen Wachstumsökonomie auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen. Es geht daher um den gesamten Themenkomplex der Ressourcengerechtigkeit, der genderbezogenen Benachteiligung und der sozialen Gerechtigkeit, wie zum Beispiel die faire Bezahlung von Arbeitenden[6]. Deshalb bedeutet der Begriff Klimagerechtigkeit einen ökonomischen Wandel, der soziale und ökologische Gerechtigkeit herstellt.

Über die Klimagerechtigkeitsbewegung

Auch wenn insbesondere Schüler*innen die medialen Gesichter der Klimabewegung sind, ist der Kampf für Klimaschutz und Klimagerechtigkeit nicht nur ein Kampf von Schüler*innen, er ist nicht nur ein Kampf für eine lebenswerte Zukunft, sondern auch für das Sichtbarmachen globaler Zusammenhänge und die Erkenntnis, dass insbesondere die Länder des globalen Nordens für die Folgen der Klimakrise verantwortlich sind, welche in katastrophalem Ausmaß bereits jetzt, und auch schon seit mehreren Jahren, vor allem in Ländern des globalen Südens zu spüren sind[7]. Der Kampf für Klimagerechtigkeit ist somit auch ein Kampf für die Wiedergutmachung vergangener Ungerechtigkeiten, für eine gerechte Veränderung der Gegenwart, aus der eine lebenswerte Zukunft resultieren kann.

Die Klimakrise ist als globales, gesamtgesellschaftliches Phänomen zu begreifen, welches die vorhandenen Herrschaftsverhältnisse auf dieser Erde und das zugrunde liegende System in ihrer Absurdität widerspiegelt. Deswegen ist die Klimakrise ein Thema, das jede*n angeht. So sind es nicht nur Schüler*innen, sondern auch Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Unternehmer*innen, Eltern und Studierende, die sich für eine ökologisch nachhaltige, humane und solidarische Gesellschaft engagieren.

Als Teil der letzten Gruppe haben wir uns als Students for Future Hildesheim im November 2019 als eine dezentrale, für alle offene, gewaltfreie und basisdemokratisch organisierte Bewegung gegründet. Gemäß unserem Selbstverständnis verstehen wir uns als Bindeglied zwischen der Fridays for Future-Bewegung mit ihren berechtigten Forderungen und der Wissenschaft, die dafür Lösungen erarbeiten kann. Unser zentrales Anliegen ist es, wissenschaftliche Erkenntnisse, Lösungen und Handlungsmöglichkeiten für alle verständlich aufzubereiten und in die Gesellschaft hineinzutragen. Als Studierende sehen wir uns nicht nur als Wissenskonsument*innen, sondern auch als Mitgestaltende der Lehre und Forschung. 

Über unsere Arbeit und unsere Verantwortung

Wir sehen unsere zentrale Verantwortung und Aufgabe, neben der Unterstützung der Klima-Demonstrationen und der Bildung über unsere Social Media-Kanäle, in der Sensibilisierung für das Thema der Klimagerechtigkeit an der Universität und der damit verbundenen Institutionalisierung dieses Themas in seiner interdisziplinärer Dimension.

Die Universität als Ort des Lernens und Hinterfragens sollte in unseren Augen nicht nur Wissen generieren und vermitteln, sondern auch den Status Quo kritisch reflektieren, Schlussfolgerungen für die Arbeits- und Lebensrealität an der Universität ziehen, die Konsequenzen daraus ernst nehmen und somit auch über den universitären Rahmen hinaus wirken. Auch wenn Wissenschaft stets den Anspruch verfolgen sollte, frei von Bewertungen und persönlichen Meinungen zu sein, so trägt sie gewiss auch eine gesellschaftliche Verantwortung, wenn sie zukunftsfähig sein möchte. Die Klimakrise wird auch in der Wissenschaft noch zu sehr als ökologische, zu wenig als gesellschaftliche Krise behandelt und in ihrer interdisziplinären Relevanz unterschätzt, wenn nicht sogar ignoriert.

Deswegen bestand unser erstes Projekt in der Organisation und Durchführung einer öffentlichen Ringvorlesung an unserer Universität. Unter dem Titel »Wie begegnen wir der Krise? Klima und Gesellschaft« beleuchtete diese Vorlesung mit ihren elf Vorträgen von Expert*innen und einer abschließenden Podiumsdiskussion die Klimakrise nicht nur aus ökologischer Perspektive, sondern auch aus ökonomischer, psychologischer, kultureller, digitaler, genderwissenschaftlicher, philosophischer und historischer Sicht und konfrontierte die Teilnehmenden mit Fragen, die den Blick für die Vielschichtigkeit und Dringlichkeit der »größten Herausforderung des 21. Jahrhunderts«[8] weiten sollten. So wurden beispielsweise Überlegungen dazu getroffen, in welchem Zusammenhang die Praxis unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems mit der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen steht, welche psychologischen Mechanismen für das langjährige Leugnen und Ignorieren wissenschaftlicher Erkenntnisse verantwortlich sind oder inwiefern geschlechtergerechte Perspektiven in der Diskussion um die Klimakrise berücksichtigt werden.

Einige der zentralen Erkenntnisse der interdisziplinären Auseinandersetzung im Rahmen unserer Ringvorlesung sollen im Folgenden umrissen werden.

  • Der Kampf um Klimagerechtigkeit kann zu einer weltweiten Solidarisierung führen, da er zu einer Entstehung einer globalen Identität führen kann. Jedoch wie die Corona-Krise trifft auch die Klimakrise nicht jede*n gleich, sondern deckt Privilegien, gesellschaftliche Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse sowie die damit verbundenen Ungerechtigkeiten auf. Die Fragen nach Verantwortung und Gerechtigkeit müssen demnach auch in der Debatte um eine globale Identität berücksichtigt werden.
  • Die kapitalistische Wirtschafts- und Lebensweise mit ihrer Logik des unbegrenzten Wachstums führt zu Vielfachkrisen[9] und ist unvereinbar mit einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Gestaltung unserer Gesellschaft. »Alle Versprechen eines grünen Kapitalismus, einer ›Entkopplung‹ von Wachstumszwang und Ressourcen- und Energieverbrauch erweisen sich als infantile Technikfantasien.«[10]
  • Für den Umgang mit Krisen muss bereits im Klassenzimmer sensibilisiert werden. Das Wissen zu Ursachen und Folgen der Klimakrise gehört zur Allgemeinbildung, weswegen Bildung für nachhaltige Entwicklung in das Lehramtsstudium integriert werden muss, sodass dieses Wissen in Grund- sowie weiterführenden Schulen vermittelt werden kann.
  • Die Klimakrise deckt geschlechterdiskriminierende Strukturen auf. Ein Beispiel dafür ist, dass laut UN weltweit Frauen 14 Mal stärker von der Klimakrise betroffen sind[11].
  • Darüber hinaus ist anzunehmen, dass die Auswirkungen der Klimakrise nicht nur auf die menschliche Mobilität, auf Migration und Fluchtprozesse, sondern auch auf die Immobilität schwerwiegend sind.

Die Ringvorlesung hat durch ihren interdisziplinären Charakter ermöglicht, die Komplexität und Verwobenheit der Klimakrise zu erahnen sowie Parallelen zwischen den einzelnen Disziplinen zu ziehen und sie miteinander in Zusammenhang zu setzen. Die Teilnehmenden gaben in der Evaluation an, ihr Bewusstsein für Nachhaltigkeit habe sich verändert und sie würden ihr Verhalten aufgrund des neuen Wissens ändern wollen. Zusammenfassend kann dieses erste Projekt, welches überwiegend durch studentisches ehrenamtliches Engagement ermöglicht wurde, als ein Erfolg bewertet werden. Damit es ist jedoch keineswegs getan. Die Klimakrise wird immer wieder durch andere Krisen in den Hintergrund gerückt werden. Die Krisen der Spätmoderne als einzelne voneinander unabhängige Phänomene zu betrachten und sie in ihrer Multikausalität und ihren Wirkungszusammenhängen zu ignorieren, ist jedoch fatal. Auch wenn wir an unserer Universität auf offene Ohren und helfende Hände seitens der Dozierenden gestoßen sind, ist das Bewusstsein für die Klimakrise, für die Verflechtung ihrer Ursachen und Folgen und für die daraus resultierende Notwendigkeit struktureller Veränderungen noch nicht in der Universität verankert. Wissenschaftler*innen tragen eine gesellschaftliche Verantwortung. Nur wenn sie diese ernst nehmen, kann Wissenschaft zukunftsfähig sein.


[1] Fridays for Future. Abgerufen am 31.07.2020 von https://de.wikipedia.org/wiki/Fridays_for_Future

[2] Bücheler, S. (2018). Klimawandel: die abstrakte Gefahr. Abgerufen am 31.07.2020 von https://www.hr-inforadio.de/programm/das-thema/klimawandel-die-abstrakte-gefahr,klimawandel-psychologie-100.html

[3] Perspektiven für die Klimaforschung 2015-2025. Abgerufen am 1.08.2020 von https://www.mpimet.mpg.de/fileadmin/download/DKK_Positionspapier_Mai_2015_im_Webformat.pdf

[4] Forschung zu Klimaschutz und Klimawirkungen. Abgerufen am 1.08.2020 von https://www.bmbf.de/de/forschung-zu-klimaschutz-und-klimawirkungen-365.html

[5] Alle reden von Klima. Wir reden über Klimagerechtigkeit. Abgerufen am 1.08.2020 von https://www.rosalux.de/publikation/id/41869/alle-reden-vom-klima-wir-reden-ueber-klimagerechtigkeit?cHash=98a3a692f451978f7ef0391753e03145

[6] Klimagerechtigkeit. Abgerufen am 1.08.2020 von https://www.rosalux.de/dossiers/klimagerechtigkeit

[7] Sachs, W. & Santarius, T. (2007). Ein Menschrecht auf Klimaschutz. Abgerufen am 1.08.2020 von http://www.santarius.de/wp-content/uploads/2011/04/Ein-Menschenrecht-auf-Klimaschutz-p%C3%B6-106_107-2007.pdf

[8] Kosak, D. (2018). Köstinger: Klimawandel ist größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Abgerufen am 1.08.2020 unter https://www.bmlrt.gv.at/service/presse/umwelt/2018/Koestinger–Klimawandel-ist-groe-te-Herausforderung-des-21.-Jahrhunderts.html

[9] Demirović, A.,  Dück, J., Becker, F., Bader, P. (2011). VielfachKrise: Im finanzmarktdominierten Kapitalismus. VSA.

[10] Kern, B. (2018). Mensch sein ist vor allem die Hauptsache: Gedanken einer Revolutionärin. Marix Verlag.

[11] Ehrenhauser, A. (2016). Klimagerechtigkeit und Geschlecht: Warum Frauen besonders anfällig für Klimawandel & Naturkatastrophen sind. Abgerufen am 1.08.2020 unter https://dgvn.de/meldung/klimagerechtigkeit-und-geschlecht-warum-frauen-besonders-anfaellig-fuer-klimawandel-naturkatastroph/